Ein frisches Therapie-Modell mit Bewohner:innen einer Seniorenresidenz, Schwerpunkt alkoholbedingtes amnestisches Syndrom (ICD 10)
Stand: 24.01.2022
Kurz vor Weihnachten, am 13.12.2021 ist es dann wieder soweit! Mein Kollege hat einen glänzenden Vorschlag, den wir sodann auch gleich erproben müssen - das alte Berlin ("Alt-Berlin") mit seiner Doppelstadt Berlin-Kölln.
Ja, man mag es kaum glauben, aber Berlin sah über all die Zeit des Bestehens mit Gründung im 13. Jahrhundert als eine aufblühende Handelsstadt (eine Eichenbohle spricht sogar von einer Datierung um das Jahr 1183) immer wieder anders aus. Und bis zum zweiten Weltkrieg hatte es noch ein Aussehen, das wir mit dem Berlin, das wir heute kennen, gar nicht übereinbringen können. Mit einer Altstadt und einem Kern, einer echten Mitte.
Unser geheimnisvolles Berlin - gemeinsam Staunen
Die Geschichte Berlins ist wechselhaft und geheimnisvoll. Vieles ist verschwunden und heute nur noch zu erahnen. Jedoch gut re-konstruierbar. Ein bißchen was wusste ich schon über mein Berlin, in dem ich bereits seit 1996 lebe. Die Museenlandschaft habe ich durch mein Studium der Kunstgeschichte kennengelernt. Auch gab es Zeiten, da sehnte ich mich nach einer Altstadt mit einer Kirche und kleineren, beschaulicheren Gebäuden. Ich hielt mich über Jahre viel in Berlin-Mitte auf - im sogenannten Scheunenviertel, am Hackeschen Markt - fühlte mich auf der Museumsinsel zuhause. Doch irgendwie suchte ich eher nach anderen Kulturen, Ländern und Städten.
Durch meine Recherche landete ich auch bei meinem Alt-Wissen aus frühen Studienzeiten: dem mittelalterlichen Berlin ab dem 13. Jahrhundert, von dem heute noch Spuren zu finden sind. Meine Neugier war geweckt, als ich zuerst alleine das Nikolaiviertel aufsuchte und mir klar wurde, dass es Statuen, Straßennamen, Gebäude- und Mauerreste gibt, die an vergangene Zeiten erinnern. Mein Weg führte mich zuerst zu Fuß von der Amerika-Gedenkbibliothek in Kreuzberg in Richtung Alt-Berlin (Mitte). Ich kann es immer noch nicht fassen, dass es am Petriplatz eine Petrikirche (erbaut 1230; abgerissen 1964) gab. Und an der Fischerinsel gab es ein Gertraudenspital mitsamt Kirche, von dem nur noch eine Statue der Heiligen Gertraude diese Geschichte erzählt.
Der Forschergeist ist geweckt
Gute Voraussetzung, um mit unseren Bewohner:innen das Feld zu erkunden. Ich will's wissen und weiß auch noch nicht gerade viel. Aber ich begebe mich auf die Suche, bin neugierig und offen. Und ich staune. Und was soll ich sagen - ich habe mit meiner Begeisterung auch schon so manche:n meiner Freund:innen angesteckt. Gerade jetzt zu Pandemiezeiten tut das gut: sich höheren Ideen und Themen wie z.B. der Berliner Stadtgeschichte, der Kunst- und Kulturgeschichte zu verschreiben und zu erforschen als nur den schnöden Alltag zu stemmen. Beides zusammen lindert den Frust. Weil man dann immer etwas Neues erfährt, was einem Freude bereitet. Durch Bildung, die einen wirklich angeht, gewinnt man Sinn durch die Aktivierung der Sinne.
Der Aufbruch zum Ausflugsabenteuer erweist sich gerne mal als zäh, aber das kennen wir schon. Eile mit Weile. Eine Bewohnerin, die eigentlich gerne dabei ist und überhaupt Kreativsein liebt, will erst mit, doch dann geht's doch nicht. Viel Ermunterung und Hin- und Her mit viel Geduld, Dranbleiben, Seinlassen und Frohsinn. Besonders das Gut-Sein-Lassen, nicht zu viel wollen, ist dabei wesentlich. Was geht geht, was nicht geht geht nicht. So einfach ist das.
Augenblicke mit allen Sinnen wahrnehmen und "einfangen"
Wir nehmen den Bus und fahren bis zum Nikolaiviertel. Es klappt prima, sogar viel besser als ich dachte. Mein Motto erweist sich wieder als richtig: "Erwarte nichts, rechne mit Allem." Die, die mitwollen, sind gerne dabei. Wir schekern im Bus. Freuen uns, dass wir draußen sind, dass kein Schnee oder Eis uns beim Laufen behindert. Ich passe auf, versuche Hilfestellung zu geben, wenn jemand zu sehr polyneuropathisch "wankt". Wir machen langsam - es gibt nichts zu erreichen als den Augenblick auszukosten. Wir versuchen so viele wie möglich davon einzufangen und wahrzunehmen. Am Nikolaiviertel halten wir inne und erzählen uns im Team, was wir über die Geschichte dieses heute recht seltsamen Viertels wissen. 1980-1987 zur 750-Jahr-Feier wurde es erneut errichtet. Nicht historisch getreu, sondern als ein Erlebnisort. Fast alle kennen es. Waren schon mal dort. Ist aber sehr lange her. Ein irgendwie vergessener und für Berlin fast unwirklicher Ort, wie aus der Zeit gefallen.
Und es ist wirklich eigenartig hier: Plattenbaustil, der sich ob seiner Praktikabilität überallhin gut verkaufte mit Pflastersteinen und heiter historisch anmutendem Blendwerk. Mit Gebäuden, die wie alt aussehen und Gebäuden, die tatsächlich alte Bausubstanz (Feldsteine u.a.) aufzeigen, wie an der Nikolaikirche.
Ich merke, dass es für uns und unser Klientel genau richtig ist hier. Es gibt viel zu erkunden, zu sehen, zu hören und damit wahrzunehmen. Etwas für alle fünf Sinne.
An der Nikolaikirche erklingt eine Glockenmelodie (gefertigt aus Meissner Porzellan, erfahren wir), die mich und auch uns zutiefst beglückt: zuerst spielt das Freiheits-Lied "Die Gedanken sind frei", dann eine Melodie, die ich zuerst fast nicht glauben kann, hier zu hören: "Ein Mädchen oder Weibchen" aus Mozarts "Zauberflöte". Wir sind beschwingt. Ich singe mit. Zwei meiner Lieblingslieder.
In Berlin unterwegs mit den "Öffentlichen".
Hier mit dem Bus.
Große klare Erkenntnisse
Die Bewohner:innen fühlen sich im Nikolaiviertel sichtlich wohl und wir fragen, weshalb das so ist, obwohl das Wetter heute sehr winterlich grau und ungemütlich ist. Ihre Antworten sind so pur: Hier ist man Mensch in menschlicher Architektur - von Menschen für Menschen gemacht. Überschaubar in der Höhe - eine Kirche als Mittelpunkt, keine Autos. Kopfsteinpflaster als huckeliges Erlebnismoment. Ein Glockenspiel mit heiteren Klängen muntert sie auf. Es tue gut, hier sein zu dürfen. Mensch sein in einer überschaubaren Lebenswelt, die einfach mal gut tut.
Das malerische Nikolaiviertel mit Blick auf die Nikolaikirche.
Ich bin schwer beeindruckt. Ich liebe solche basalen und klar wahren
Erkenntnisse. Deswegen gehe ich so gerne auf Abenteuerreisen mit den Bewohner:innen. Wir sind so auf dem Boden - unsere Ideen und Erkenntnisse entspringen dem gerade Erlebten.
Dennoch ist es vom Wetter her etwas klamm - ein kaltmachender Sprühregen. Kleinste silberne Wasserperlchen landen auf dem Haar einer Bewohnerin.
Auf zum nächsten Ort.
Die Marienkirche am weihnachtstrubeligen Alexanderplatz kennt auch nicht jede:r.
Selbst das Kopfsteinpflaster im Nikolaiviertel
spricht von der Idee alter Geschichte.
Wo uns Neugierde und Staunen hintreiben
Wir schreiten bedächtig die Stufen herunter, auf das alte Bodenniveau der ehemaligen Mitte Alt-Berlins. Heute steht sie da wie ein Solitär. Leicht verloren in all den oft unansehnlichen und wie wild zusammengewürfelten Großbauten ringsum. Wir schreiten bedächtig durch das Eingangstor und betreten eine ganz eigene Welt. Die Marienkirche ist heute die Evangelische Gemeindekirche St. Marien Friedrichswerder im ehemaligen Marienviertel Alt-Berlins. Erbaut wurde sie im 13. Jahrhundert als eine der sechs wichtigen mittelalterlichen Kirchen in Berlins ursprünglichen Zentrum. In der Kirche gehen die Bewohner:innen aufmerksam umher. Es treibt sie irgendwo hin und sie schauen sich staunend um. Ich gehe zu manchem/r Bewohner:in und frage, was gerade anspricht bzw. gefällt. Ein Bewohner mag einen Sandsteinaltar mit komplexen Figuren mit einem schmiedeeisernen Gitter davor.
Besonders das schmiedeeiserne Gitter gefällt ihm gut. So fein gearbeitet, meint er. Er findet immer etwas, was ihn beeindruckt. Ich gebe ihm auch manchmal ein Buch mit Kunstwerken oder Postkarten und er sucht sich gerne Motive heraus, die er spontan abzeichnet. Er mag und er kann das.
Ein Glockenspiel spielt uns "Ein Mädchen oder
Weibchen" aus Mozarts Zauberflöte.
Dann blitzen seine Augen auf und Freude zeigt sich in seinem Gesicht. Ich mag diese Momente tiefer Freude. Eine Bewohnerin findet einen speziellen Ort für sich. Sie vermißt oft die Lebendigkeit der Natur, fühlt sich traurig und vom Leben enttäuscht. Ihr Ort sind die Kerzen (Votivlichter, Opferkerzen) am Kerzenständer, die man für sich und für andere anzünden kann. Auch der Christus guckt für sie freundlich. Das tut ihr gut und die Kerzenflammen flackern lebendig warm.
Ein weiterer Bewohner hat sich ein Epitaph mit einem Ritter-Wappen ausgeguckt, an dem auch im Vordergrund Vanitas-Symbole wie eine Sanduhr und ein Schädel aus Sandstein zu sehen sind. Er mag die Ausflüge. Geht auch gerne seiner eigenen Wege, erkundet selbständig, hat und entwickelt viele Fragen zum Ort und seiner jeweiligen Geschichte. Die anderen beiden Bewohner:innen sitzen mit meinem Kollegen auf den Holzbänken und erleben den Raum und seine Atmosphäre als Ganzes. Ruhen aus, lassen sacken. Das geht hervorragend in einer Kirche. Man erlebt sich im sinnlichen Raum. Mehr braucht man nicht.
Da das Kircheninnere noch einen weiteren Schatz birgt, versuche ich ihn ausfindig zu machen. Doch leider ist "Der Totentanz", wahrscheinlich entstanden im Pestjahr 1484, derzeit wegen umfassender Restaurierung nicht zu sehen. Normalerweise ist er im Turmraum der Kirche zu erleben. Ein über 20 Meter langes und zwei Meter hohes Fresko eines Reigenstanzes aller Stände und damit Menschen unterschiedlicher Berufe mit dem Tod. Die Dame an der Kasse gibt uns eine Einführung in das Werk, das wir leider heute (und auch die nächsten ca. zwei Jahre) wegen Restaurierungsarbeiten nicht anschauen können.
Die Nikolaikirche im Nikolaiviertel in Berlin Mitte
Aber wir sind heute nicht das letzte Mal da und kommen sicher wieder.
Weihnachtsmarkt mit QR-Codes und Ausklang
Nun wollen wir zum krönenden Abschluß noch auf den Weihnachtsmarkt am Alexanderplatz. Normalerweise bin ich nicht so ein Freund von bunt blinkenden Weihnachtsmärkten. Aber dieses Jahr 2021 und nach mittlerweile zwei Jahren Erfahrung mit COVID-19 erfahre ich das bunte Treiben gerne. Es ist ein bißchen aufregend, wie wir mit unseren QR-Codes (Impfstatus) und Ausweisen durch die Einlasser geprüft hereingelassen werden. Zwei Bewohner:innen verschwinden. Sternstundenmomente. Dennoch kenne auch ich mittlerweile die Gewohnheiten mancher Bewohner:innen und verlasse mich auf ihr erneutes Erscheinen. Und tatsächlich. Ein Bewohner, der etwas gesünder geblieben ist, hilft einer Bewohnerin beim Toilettengang mit Finden einer öffentlichen Toilette und nötigem Kleingeld. Ein Liebesdienst. Bin beeindruckt und freue mich, dass sie sich gegenseitig helfen.
Wir schlendern vorbei an Buden mit buntem Weihnachtsallerlei, duftendem Essen und Trinken. Eine Bewohnerin würde gerne Räucherstäbchen kaufen, doch mein Kollege erklärt, dass das Entzünden auf dem Wohnbereich nicht gestattet sei, wegen des offenen Feuers. Das Riesenrad dreht sich und auf der Eisbahn fahren Mutige Schlittschuh. Die Musik beschwingt mich. Mozart('s Figaro) auf Modern mit flotten Beats. Heute gibt es viel Mozart, bemerke ich. Die Stimmung ist gut, wenn auch ein wenig erschöpft. Und sicher sieht Weihnachtsstimmung anders aus. Doch mir gefällt es, wie es sich zeigt. Es ist das, was es jetzt ist. Wir gönnen uns Kinderpunsch und Kaffee und stehen eine kleine Weile an einer Bude nahe der Marienkirche. Ein Bewohner legt für mich 3€ aus (bei ihm funktioniert die Erinnerung recht gut). Mich erinnert das Ambiente auf dem Weihnachtsmarkt ein wenig an Bilder von Pieter Bruegel wie die "Heimkehr der Jäger" oder "Die Volkszählung in Bethlehem" mit Menschen in heimeliger Backsteinarchitektur, nur ohne Schnee. Ich male es mir ein wenig romantisch.
Der Heimweg führt uns über den Alexanderplatz - mit seiner heute unnachahmlich unzusammenhängenden Architektur ohne Natur und auch der Weltzeituhr, die 1969 entstand und 2015 unter Denkmalschutz gestellt wurde. Nur wenige Trambahnhaltestellen fahren wir, um wieder wohlbehalten im Wohnheim anzukommen. Mein Kollege verrät uns, dass wir doch tatsächlich 4,7 Km gelaufen und immer noch guter Dinge sind. Ich fühle mich wieder um ein Stückchen Berlin und ein Abenteuer reicher. Und mir wird immer klarer, dass Berlin noch vor dem zweiten Weltkrieg ganz anders aussah. Meine Leidenschaft, mehr und tiefer wissen zu wollen, und auch die von so mancher/m Bewohner:in, ist entflammt.
Wir wollen noch mehr entdecken.
Unser nächstes Ziel wird das Märkische Museum sein.
Eintauchen in Alt-Berlins Geschichte.
Auf geht's!
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