Wie wir lernen können, eine alte Angst zu überschreiben.
Wenn das Kartenhaus zusammenbricht
Wenn vieles, was man als stabil empfand, durch Tod und Zerfall wie ein Kartenhaus zusammenbricht, und man am Boden liegt - rate ich mittlerweile, einfach mal am Boden sitzenzubleiben und zu atmen. Wo bin ich hier gelandet? Ist es wirklich so schlimm, wie es sich anfühlt? Alte Vorstellungen und liebgewonnene Gewohnheiten geraten ins Wanken und fallen dann in sich zusammen. Ja, es ist schlimm. Ich bleibe mal am Boden sitzen. Leben ist so fragil. Ich komme auf den Boden - den realen und den der Tatsachen. Nun sitze ich hier. Beruhige mich langsam. Spüre den Boden.
Am Boden. Mal wahrnehmen, was da ist.
Die amerikanische Dichterin Mary Oliver rät uns, dass in und für unsere Umwelt aufmerksam zu sein, “unsere unendliche und zweckmäßige Aufgabe” ist. Ich lese in ihrem, von ihr selbst zusammengestellten, Gedichtband das folgende Gedicht (Auszug) -
Der Sommertag
Wer schuf die Welt?
Wer schuf den Schwan und den Schwarzbären?
Wer schuf die Heuschrecke?
Diese Heuschrecke hier meine ich -
welche Zucker aus meiner Hand frisst, die ihren Kiefer vor und zurück bewegt
(...)
Ich weiß nicht genau, wie ein Gebet aussieht.
Aber ich weiß, wie man Aufmerksamkeit schenkt, wie man ins Gras fällt, wie man sich ins Gras kniet, wie man müßig und gesegnet ist, wie man durch die Felder streunt,
denn das ist es, was ich den ganzen Tag machte.
Sag mir, was hätte ich sonst machen sollen?
Stirbt nicht alles am Ende und viel zu schnell?
Sag mir, was hast du vor mit Deinem wilden, kostbaren Leben?
Mich tröstet das.
Bringt mich auf den Boden, auf den Punkt und in den Moment.
Denn das ist es, was ich nach all dem Sterben von Menschen, Team-Konstellationen, Glaubenssätzen und Illusionen über das Leben lerne und begriffen habe.
Komm' mal auf den Boden.
Auf dem Boden sein.
Illusionen erkennen und sein lassen.
Und dann springt sie hinein… die Heuschrecke.
Tatsächlich gab’ es auch in meiner Welt eine grellgrüne Heuschrecke - ein großes grünes Heupferd - , die des Nachts von meiner geliebten Fenster-Linde “Phanes” ("Der Leuchtende"/ "Lichtbringer", eine griech. Urgottheit) durch das offene Fenster in mein kleines, Kreuzberger Reich sprang. Mein grundguter, urig-punkiger Nachbar kam, packte sie unerschrocken und warf sie zurück durch's Fenster in die Hinterhof-Natur.
Das kann ich nicht vergessen. Sie war riesig und so tief grün, wie der fröhliche Frühling. Und herzhaft lebendig! Ja, und auch ein bißchen gruselig. Ein Vorbote für einen nahenden Frühling! Ein grünes Zeichen, das springen kann, bißchen erschreckend ist und Ja! sagt oder Ja!-sagen hilft. So ein kleines grünes Monsterchen. Zumindest für mich.
Das Monster “Angst” zum Tee einladen
Frei nach Pema Chödrön
Eines meiner Monster ist Angst. In einem spontanen Einfall zu Ostern 2024 buchte ich ein Zimmer in einem Ostseebad, in dem ich viel traurig-verlorene und angstvolle Kindheit mit depressiv-starren Menschen verbrachte. Meine Idee war, das Dorf freizusprechen von all meiner kindlichen Traurigkeit, Wut und Angst. Das Dorf kann schließlich nichts dafür, dachte ich mir. Ziemlich schnell und leicht atemlos buchte ich ein Zimmer. Was mich vor Ort erwartete, überstieg all meine Erwartungen. Ich war doch tatsächlich in “Bullerbü” gelandet.
“Bullerbü” gibt es manchmal wirklich. Muße & Leistungsfreiheit.
Ich lande auf einem Bauernhof, geführt von besonderen Menschen, die Tiere mit schweren Schicksalen aufnehmen, aufpäppeln und liebevoll behandeln. Die Tiere müssen nichts, außer da sein. Es gibt auch tiergestützte Therapie, kreative Angebote und manchmal auch ein Café. Tierfüttern, dabei sein, beobachten. Aufmerksam und ein lebendiger Teil des Ganzen sein. Genau so ist es mit den Menschen. Sie werden angenommen, wie sie sind - dürfen sein. Müssen nichts. Alles ist gelassen. Ich spüre diese besondere, uneitle Atmosphäre ohne Selbstoptimierungs-Anspruch, in der ich den liebgewonnenen Geist der Muße und der Leistungsfreiheit erkenne. Und gehe ganz darin auf. Hier ist etwas so wie es eben ist. Im Anerkennen und Seinlassen.
Ich lerne durch die Inhaberin Maike ein besonderes Pferd namens “Kleiner Onkel” (ähnlich wie Pipi Langstrumpfs' Pferd) kennen und lieben. “Kleiner Onkel” hat auch Angst. Doch langsam kommt er aus seiner ängstlichen Starre heraus, erzählt Maike. Wir, das Pferd und ich, blicken uns in die Augen. Ein für mich unvergesslicher Moment. Zwei, die Angst haben und die einander erkennen.
Mit zwei bunten Eimerchen ausgestattet (ich habe glitzernde wählen dürfen), gehe ich mutig durch’s Kleintiergatter und gebe Hühnern in lustigen Federboots und fidelen Hasen Futter. Dann setze ich mich einen Moment dazu und schaue dem lebendigen Treiben zu.
Das Dorf freisprechen und es neu erleben. Geschichte überschreiben.
Im Ostseebad, das ich kleiner in Erinnerung habe, gehe ich zum Strand. Esse Crêpe wie damals, mit Nutella und Kokosflocken. Gehe auf der Strandschaukel schaukeln.
Ich liebe Schaukeln. Wie schon der Philosoph Wilhelm Schmid in seinem Buch “Schaukeln - Die kleine Kunst der Lebensfreude” verrät, tut Schaukeln ungemein gut. Es ist so ein phantastisches Sinnbild für das Leben selbst. Vor und Zurück. Leichtigkeit spüren. Bischen Schwindel, wenn zu doll. Wieder ausklingen lassen. Und um dann wieder abzuspringen. Mir gefallen besonders die Nestschaukeln. Beim Schaukeln, in so einer Schaukel auf dem Bauernhof, gesellte sich eine Katze zu mir. Ich nannte sie “Schmusali” (sie hieß aber anders), liebkoste sie mit liebevollen Namensgebungen und Streicheln. Man wird ja zumeist mit einem fröhlichen Schnurren und Angeschmustwerden beschenkt.
Manchmal braucht es nicht mehr.
Mary Oliver beschreibt mir in ihren Gedichten, wie auch ich die Welt, von ihrer Basis her, begreifen und erleben möchte. Eintauchen in den natürlichen Moment. Erleben, annehmen, wie es sich zeigt. Oft barfuß. Erde, Wärme und den Atem spüren.
Der “Kleine Onkel” lebt jetzt, versuchsweise, in einer tierischen DreierWG mit zwei anderen Tieren, erzählt mir Maike. Ich freue mich. Mal sehen, wie das weitergeht.
Und ich resümiere für mich, dass mir das mit den Tieren, der Natur und wohlmeinenden Menschen wichtig und teuer ist. An dem, was mir wirklich wichtig ist, bleibe ich mal dran. Den Anderen - ob Mensch oder Tier, auch Natur - so nehmen, wie er/ sie ist, ohne daran rumfuhrwerken zu müssen. Auch Moore, die mich schon länger faszinieren, nur renaturieren, und dann frei wachsen und sich entwickeln lassen (so meine romantisierende Vorstellung davon). Den Moment genießen mit allen Sinnen. Sich sicher fühlen dürfen. Miteinander. Sich und Andere frei (sein) lassen. Alles Unwesentliche, allzu Dramatische und Aufgebauschte, lasse ich sein. Es kommt gut ohne mich zurecht.
Diese Momente sind wundervoll, weil sie so einfach sind.
Ich will mehr davon erleben.
Mich und andere frei und lebendig sein lassen.
Und dadurch lieben. Sich selbst und die Anderen, die es wollen.
"Ihr würdet es nicht glauben, was ich ein - oder zweimal gesehen habe. Ich sage euch bloß so viel: Nur wenn Engel in eurem Kopf sind, dann seht ihr, vielleicht, einen einzigen." (Mary Oliver, "Die Welt, in der ich lebe", Auszug)
Herzlich Frau Kunst
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