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"Wohlan denn, Herz, nimm' Abschied und gesunde" - Vom Wert des Abschiednehmens

Aktualisiert: 22. Okt. 2021

Artikel/ Kurzversion in der COLUMBA 03/2021

Langversion siehe unten



Artikel "Herz, nimm' Abschied und gesunde" -

Vom Wert des Abschiednehmens


Seite 2 (Heft) kann über das Palliativ-Portal bezogen werden.



Langversion


Lange durfte ich, im Rahmen von Palliative Care (Palliativstation/ Palliativer Bereich), Menschen bei ihrem Abschied vom Leben mit der Kunst und der Therapie begleiten. Und meine Essenz daraus ist die, dass bewusstes Abschiednehmen als aktiver Prozess emotionales Leid lindern hilft, das Sterben als Loslassen erleichtern kann und damit Neuanfänge begünstigt. Das betrifft das Versterben eines Menschen wie auch das Enden von Situationen, Projekten und Beziehungen. Bewusst gestaltetes Abschiednehmen mit einem einhergehenden Trauerprozess hat mit Reifung, einem Hineinreifen in einen neuen Seinszustand zu tun. Damit gleicht es einem Liebesdienst von und für Menschen für deren Neuanfänge.


Abschiednehmen ist schmerzlich. Darum ist es auch nach wie vor in unserer westlichen Welt ein Tabuthema und Verlustangst (sog. "Trennungsangststörung im Erwachsenenalter") ein weit verbreitetes Phänomen. Oft wird sie nicht erkannt und sie ist auch noch wenig erforscht (Mehr dazu: https://www.aerzteblatt.de/archiv/147519/Trennungsangststoerung-im-Erwachsenenalter-Haeufig-nicht-erkannt)

Auch wenn es in der Öffentlichkeit, seit geraumer Zeit verstärkt, mehr Aufmerksamkeit und Aufklärung zu den Themen Sterben, Tod und Trauer gibt. Doch scheint es auch hier weniger um fehlende Informationen zu gehen als vielmehr um die konkrete Umsetzung in der Praxis.


Oft ist es mir, zusammen mit den mir anvertrauten Menschen und meinem jeweiligen (Palliativ-)Team gelungen, das bewusste Abschiednehmen mit Patient*innen und ihren Angehörigen zu ermöglichen. Davon möchte ich berichten und bringe Beispiele aus der stationär-palliativen Praxis. Ich möchte auch aus meinem subjektivem Blickwinkel davon erzählen, wenn bewusstes Abschiednehmen nicht durchlebt werden und welche möglichen Folgen das für die Beteiligten haben kann.


Beginnen möchte ich meine kleine Abhandlung über Abschiednehmen mit Hermann Hesses Gedicht "Stufen" (Hesse 2017, S. 187). Lesen Sie es mit Bedacht durch. Man denkt es ja zu kennen. Lassen Sie es ein wenig wirken und auf der Zunge zergehen, wie eingenommene Medizin. Nehmen Sie sich einen Moment Zeit und atmen Sie bewusst. Vielleicht wollen Sie eigene Gedanken mitteilen oder auch aufschreiben. Ein kleines Heft hilft dabei, Gedanken einzufangen und zu ordnen.


Stufen


"Wie jede Blüte welkt und jede Jugend Dem Alter weicht, blüht jede Lebensstufe, Blüht jede Weisheit auch und jede Tugend Zu ihrer Zeit und darf nicht ewig dauern. Es muß das Herz bei jedem Lebensrufe Bereit zum Abschied sein und Neubeginne, Um sich in Tapferkeit und ohne Trauern In andre, neue Bindungen zu geben. Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne, Der uns beschützt und der uns hilft, zu leben.

Wir sollen heiter Raum um Raum durchschreiten, An keinem wie an einer Heimat hängen, Der Weltgeist will nicht fesseln uns und engen, Er will uns Stuf’ um Stufe heben, weiten. Kaum sind wir heimisch einem Lebenskreise Und traulich eingewohnt, so droht Erschlaffen, Nur wer bereit zu Aufbruch ist und Reise, Mag lähmender Gewöhnung sich entraffen.

Es wird vielleicht auch noch die Todesstunde Uns neuen Räumen jung entgegen senden, Des Lebens Ruf an uns wird niemals enden… Wohlan denn, Herz, nimm Abschied und gesunde!"


Gerade der letzte Satz hat es mir angetan. Den Abschied nehmen ist vom Wort her ein willentlich und damit aktiv gestalteter Akt. Er läßt unser Herz gesunden. Das Wort Abschied kommt vom frühneuhochdeutschen Wort abscheid (abscheiden) und bedeutete "weggehen". Seit dem 15. Jahrhundert wurde es auch mit "Tod" gleichgesetzt. Ein Abschied kommt also auch einem kleinen oder partiellen Tod gleich. Etwas endet, an das wir uns gewöhnt haben und das tut weh. Gerade in unserer kapitalistischen und damit konsumorientierten Kultur dreht sich alles um die Verfügbarkeit des "jetzt gleich", "immer (wieder)" und gaukelt uns vor, wir und die Dinge um uns herum wären "ewig" und "ständig verfügbar" in der gleichen Form da. Das Gestern hält uns in seinem Bann wie auch das Morgen. Das Jetzt, der einzigartige Augenblick, wird wenig wahrgenommen. Wir haben verlernt oder vielleicht niemals wirklich begriffen, dass die Natur und damit auch Menschsein in Zyklen und Rhythmen organisiert ist und alles seine Zeit zum Werden und Vergehen - und wieder Werden - braucht. Das Anerkennen der natürlichen Wirklichkeit vom Zyklus, mit seinem Entstehen und Vergehen, ist daher die Basis für ein vertrauensvolleres und damit beruhigteres Menschsein. Alles braucht seine Zeit und Abschiednehmen von etwas oder jemandem ist ein wesentlicher Prozess, ähnlich einem Trauerprozess. Individuell ausgelebt in verschiedenen Zuständen und mannigfaltigen Gefühlen, wie ihn George A. Bonanno beschrieben hat (Die andere Seite der Trauer, 2012).




Schicksalsweberinnen


"Wie jede Blüte welkt und jede Jugend Dem Alter weicht, blüht jede Lebensstufe, Blüht jede Weisheit auch und jede Tugend Zu ihrer Zeit und darf nicht ewig dauern."


Bei den Griechen begegnen uns die Moiren oder Moira, bei den Römern die Parzen, bei den Germanen die Nornen und auch der Matronenkult. Schicksalsgöttinnen in Dreigestalt webten unseren Schicksalsfaden, öffneten unser Lebensbuch und schnitten den Faden am Ende (durch eine Schere oder auch durch ein Lachen) wieder ab. Jahrtausendelang wurden diese großen Göttinnen und ihre Kulte verehrt. Zumeist standen sie über den Göttern und ihr Geschick war unumstößlich. Jedes Eingreifen seitens der Götter kam einer Unordnung, einem Eingreifen in das Schicksal gleich und wurde geahndet. Die östlichen Kulturen wie z.B. der Buddhismus, lehren die Anerkennung des Werden und Vergehen allen Lebens. Sie ziehen daraus in ihrer Praxis die nötige Motivation, sich im Leben einzubringen - negative Gedanken in positive zu wandeln, Gefühle anzunehmen, sein zu lassen und bewusst Werte wie Demut statt Wut zu leben. Mit dem Werk "Das Tibetische Buch vom Leben und Sterben" von Sogyal Rinpoche ist den Menschen ein Werkzeug an die Hand gegeben, sich lange im Voraus und damit zeitlebens, aktiv durch Üben und Praktizieren auf das Sterben vorzubereiten. In der Achtsamkeitspraxis nach z.B. Jon Kabat-Zinn oder auch nach Michael Huppertz kommt man durch beständiges Üben dem Augenblick, seinen (Körper-)Gefühlen, Gedanken und damit der eigenen Realität und auch einer umfassenderen Wirklichkeit näher.



Vereiste Gefühle wiegen schwer


Bewusstes Abschiednehmen "heilt" den Menschen aber auch von seinen vertanen Chancen und auf(ge)kommenen Schamgefühlen, sich selber und Schuldgefühlen anderen gegenüber. Schuld und Scham- und überhaupt verdrängte, nicht ausgedrückte und daher vereiste Gefühle wiegen schwer. Das ist körperlich spürbar. Gedanken kreisen um die Themen. Man schläft schlecht, träumt albtraumartig. Es verfolgt und läßt einen nicht los. Wie eine Last auf den Schultern und um die Brust, wie eingeschnürt, eng. Wir tragen so massiv an einer emotionalen Last, deren Ursprung irgendwo war und wir vergessen haben, wann es angefangen hat. Wir Menschen machen Fehler und manchmal haben wir lieber mit vielgestaltigen Abwehrmechanismen verdrängt, haben uns einer möglichen Klärung entzogen, wollten es ungeschehen machen. Es ging einfach nicht anders. Oft verhindert ein altes Trauma, z.B. eine übermächtige, nicht zugelassene und damit tabuisierte Verlustangst (oft aus Kindertagen; siehe Link oben zur "Trennungsangststörung"), die Verarbeitung und damit das erleichternde Abschiednehmen. Aber nach einem Schicksalsschlag und manchmal auf dem Sterbebett kommt das langverdrängte und gut gehütete Geheimnis zumeist wieder aus seinem Verließ nach oben. Das Nicht-Gelebte und Verdrängte will - nocheinmal - gesehen und emotional erlebt werden. Vereiste Gefühle wollen auftauen und wieder in Fluss gebracht werden. Damit sie sich lösen und wir leichter gehen, weitergehen und auch einen Neubeginn wagen können.



Abschiednehmen auf Palliativstationen aus der Sicht einer Kunsttherapeutin


"Es wird vielleicht auch noch die Todesstunde

Uns neuen Räumen jung entgegensenden,

Des Lebens Ruf an uns wird niemals enden ..."


"Das Beste, was mir je passieren konnte." - Der erste und letzte Liebesbrief


Mit einem älteren Herren durfte ich ein Liebesgedicht an seine Frau schreiben. Er wollte es ihr immer sagen. Brachte es aber all die Jahre nicht über seine Lippen. Die Scham, vielleicht ob seiner Gefühle belächelt zu werden, wog schwer. Vielleicht wusste er einfach die Worte nicht. Es ging nicht. Ich bekam den Auftrag von einer Kollegin vom Sozialdienst, die ihn schon ein wenig besser kannte. Ich ließ mir erzählen und schrieb mit, was er alles mit ihr erlebt hatte. Versuchte in blumigen Worten einen Briefanfang. Doch das traf es nicht. Das war nicht er. Er war von seinem Wesen her karger. Eine Landschaft wie flaches Land nahe einer Ostsee-Küste. Wir hatten nur diese fast eineinhalb Stunden. Ich ließ dann alles Unnötige weg. Folgendes blieb (Name geändert):


Meine Ingrid:

Das Beste, was mir je passieren konnte.

Ich liebe Dich.

Darf jeder lesen.

[Ich alter Esel, bereue es, dass ich so lange suchen musste, bis ich soviel Glück fand.]


Ich kann mich erinnern, dass ich mich darüber einigen Kolleg*innen vom Palliativ-Team mitteilte. Als ich es vorlas, kamen Tränen der Rührung.

Wer mehr über diese Geschichte erfahren möchte, hier der Link zu meinem YouTube-Kanal Kunst & Muße: https://www.youtube.com/watch?v=2lE5SuFh3vs&t=7s




Reist, Kinder, reist! Die Welt ist so bunt - Vom Vermächtnis einer Mutter


Einmal hatten wir eine Patientin aus meiner Geburtsregion, nur ein paar Jahre älter als ich. Dialekt und damit Kultur verbindet und wir mochten uns. Sie hatte drei Kinder im Alter von 12 bis 21, die sie lange nicht mehr gesehen hatte. Ihre Mutter hatte das Sorgerecht übernommen. Sie wollte ihren Kindern noch so viel sagen und fühlte sich, als hätte sie ihre Kinder im Stich gelassen. Sie schämte sich. Doch sie musste sich eingestehen, dass sie nicht zur Mutter mit all den Pflichten und Kontinuitäten gemacht war. Ich schlug ihr vor, mit ihr zusammen einen Brief an die Kinder zu verfassen. Ich ließ sie erzählen und schrieb mit: was sie von und mit sich selbst und vom Leben gelernt hatte. Doch ihr Zustand verschlechterte sich tagtäglich. Ich bekam ihr Einverständnis, den Brief in ihrem Sinne zu schreiben, auszudrucken und an die Kinder zu versenden. Sie vertraute mir und ich gab mein Bestes. Sie war eine wildfreie Natur gewesen, die viel reiste und die Welt in ihrer Vielgestaltigkeit liebte. Ich schrieb in direkter Anrede an die Kinder, wie sie es mir in ihrer direkten Art vorformuliert hatte. Sie müssten reisen und die Welt erkunden. Alles ist interessant, wertvoll und bunt. Sie sollten das Leben auskosten und lieben lernen.

Ich kann mich erinnern, dass ich, nachdem die Patientin zeitnah verstorben war, ein Ok! ob meines Textes brauchte und las es der Oberärztin vor, die selber Kinder hat. Sie war berührt von den Worten und segnete es ab. Eine andere Kollegin half mir beim Ausdrucken auf edleres Papier, so dass es ein feierlicher und schön gestalteter Brief wurde.



Nochmal die Glocken läuten - Den freien Lebensentwurf würdigen


Sie kam aus Bayern. Aus einem kleinen Dorf in den Bergen. Schon früh hatte sie erkannt, dass sie einen neuen Weg für sich finden musste. Sie gehörte nicht wirklich hierher. Sie fühlte anders und die Welt rief nach ihr. Sie erkannte, dass sie sich Frauen hingezogen fühlte und ging auch in den Achtzigern ins wild-offene Berlin. Sie lebte sich aus, damit sie nichts bereute und lernte auch ihre Lebensgefährtin kennen, die sie auch jetzt, auf der Palliativstation, liebevoll begleitete und mit ihr ihren letzten Gang beschritt. Wir mochten uns gleich. Das Bayerische, unsere Herkunft, verband uns und so manches andere. Mittlerweile war sie fast nur noch Haut und Knochen und damit ein sehr zarter Mensch. Sie litt unter vielgestaltigen Schmerzen. Dennoch war sie offen und mutig und ich durfte so manches ausprobieren, z.B. Klangtherapie mittels Klangschalen. Sie liebte besonders eine ganz tiefe, sehr große, die ich eigens von zuhause, aus meinem Bestand, mitgebracht hatte. Tendenziell ging es dabei um die Idee der Klangmassage, mit ihrer beruhigenden Schwingung auf oder am Körper. Die große Klangschale jedoch hatte für sie eine andere Aufgabe: Sie fragte mich, ob sie den Klöppel schlagen dürfe. Den hölzernen, nicht den gefilzten. Ich bejahte und sie fing an zu schlagen. Erst sanft, dann immer heftiger und lauter, in regelmäßigem Rhythmus. Der ganze Raum schallte laut und es war kathartisch. Etwas musste raus. Kirchenglocken läuteten. Doch nicht friedlich und beruhigend, sondern wie ein Donnerschlag, der eine Gemeinde aufwecken sollte. Für einen Moment schlug sie die Kirchenglocken ihres alten Dorfes und sie war es, die die Glocken läutete. Was für ein großer Moment des Menschseins.


Ich erlebte mit ihr noch eine andere Geschichte, die mit einer besonderen Collage und ihrer Erweiterung zu tun hat. Ein besonderes Abschiedsgeschenk für ihre Freundin, die ihr so lange die Treue gehalten hat. Hier der Link - http://gunillagoettlicher.blogspot.com/2016/12/aschenbrodel-und-das-meer-die-wandlung.html




Auf euch und uns, Mädels! - Einladungskarten zum Abschied


"Liebe Frau G. Göttlicher, leider musste ich jetzt doch so schnell umziehen, dass wir uns heute nicht mehr sehen konnten. Ich möchte mich trotzdem nochmals auf diesem Wege bei Ihnen für die liebevolle Betreuung und die wunderbaren Inspirationen bedanken. Unsere gemeinsamen Stunden waren Balsam für meine Seele und haben mir unwahrscheinlich gut getan. Erhalten Sie sich Ihre wunderbare fröhliche Lebensart. Ich wünsche Ihnen persönlich alles erdenklich Gute und viel viel Kraft für Ihre Arbeit und genießen Sie das Leben. Danke, Ihre [...]"


Diese Patientin wollte sich von ihren Freundinnen verabschieden. Sie waren über viele Jahre unzertrennliche Freundinnen gewesen und hatten viel miteinander unternommen. Von einem Koch angeleitet, wollte sie ihnen einen besonderen und unvergesslichen Kochabend schenken - an dem sie selbst nicht mehr teilhaben würde. Für ihre Freundinnen sollten es persönlich zugeschnittene Einladungskarten geben. Sie arbeitete sehr gewissenhaft und voller Hingabe an ihren Einladungskarten in Collage-Technik. Suchte für jede Freundin passende Auschnitte aus Zeitungen aus und erinnerte sich so liebevoll an jede von ihnen. Das erfüllte sie sehr, auch wenn es ihr bisweilen schwerfiel, Tränen kamen und sie innehalten musste. Ich war dann einfach dabei und hielt den Rahmen mit der "Zeit für ihre Kunst". Da sie sich selbst Druck durch einen Perfektionsdrang machte, versuchte ich den Druck ins Spielerische und Humorvolle umzulenken. Zudem half ich bei der Suche nach besonderen Symbolen und Bildern, brachte immer wieder neue Zeitungen und bunt ausgedruckte Bilder. So entstanden langsam einzigartige Kompositionen auf dem gefalteten Papier als Karte. Ihre Freude und Gewissenhaftigkeit brachten ihr durch ihr Abschiedsprojekt eine gute und lebendige Zeit ein, die ihr den Tag mit Sinn durch gute Erinnerungen und durch Aktivsein füllte.



Feiert und pflanzt Tomaten! - Quintessenzen in einem Abschiedsbrief an die Familie


Eine meiner letzten Abschiedsbriefe auf einer Palliativstation schrieb ich für eine Frau, die mir durch ihre humorvolle und liebenswerte Art ans Herz wuchs. Der Abschiedsbrief war ihr wichtig, doch alleine konnte sie ihn nicht schreiben. Ich ließ sie erzählen, tauchte in ihre besonderen Lebenserfahrungen ein. Ihre eigene Kindheit war nicht so rosig gewesen, daher wollte sie mit ihren eigenen Kindern und auch Enkelkindern vieles anders machen. Und tatsächlich wurde sie zum Mittelpunkt ihrer Familie durch ihre liebevoll gestalteten Feiern. Sie feierte einfach gerne, kochte und bug zur Freude Aller. Besonders ihre Kinderpartys waren beliebt. Sie wünschte sich, dass ihre Lieben immer wieder das Leben feiern, so wie sie es gemeinsam gefeiert haben. Feiert! Es gibt immer einen Anlass. Und noch etwas war ihr wichtig: Sie wollte so gerne noch nach Griechenland. Doch leider würde sie es nicht mehr schaffen. "Fahrt nach Griechenland und erzählt mir dann, wie schön dieses Land ist", schrieb ich für sie. In den Brief selber sollten noch Tomatensamen kommen, von der Tomatensorte, die ihr einfach am besten schmeckte und die sie gerne bei ihren Feiern darbot. Eine kleine, wohlschmeckende, dunkle Sorte. "Säht die Samen", schrieb ich für sie, und "wartet geduldig". Überhaupt "übt euch in Geduld. Es kommt alles mit der Zeit. Und die Tomaten werden euch schmecken". Sie wirkte versöhnt mit dem Leben, nachdem ich ihr den abgeschriebenen und ausgedruckten Brief feierlich in mehrfacher Ausführung überreichte.



Wenn der Weltgeist uns fesselt, wenn wir uns nicht verabschieden (können)


"Wir sollen heiter Raum um Raum durchschreiten, An keinem wie an einer Heimat hängen, Der Weltgeist will nicht fesseln uns und engen, Er will uns Stuf’ um Stufe heben, weiten."


Doch manchmal will Abschied nicht so recht gelingen und diesmal war ich diejenige, die sich verabschieden musste. Ich durfte nicht mehr Teil eines Teams sein. Die internen Gegebenheiten in der Klinik hatten sich geändert. Ich sah es kommen und da ich schon so manchen Abschied selbst durchleben musste und auch begleitet habe, hatte ich Ideen, was ich für einen doch relativ guten Abschied für mich selbst tun konnte. Ich konnte die Realität anerkennen und wusste, dass ich mich verabschieden musste, wie sehr es auch schmerzte. Ich ging zu Beginn aktiv zu bestimmten Menschen und verabschiedete mich für die gute Zeit. Brachte Kuchen mit, gestaltete eine Abschiedskarte, nahm meine Sachen mit, erinnerte mich aktiv an die wertvolle Zeit und tue es bisweilen gerne bis heute. Dieser Text zeugt davon.

Doch das Team selbst, allem voran die Leitung des Teams, bekam bewusst und aktiv keine Verabschiedung hin. Mit einem guten Los- und Seinlassen, mit, wie oft üblich, einer kleinen Abschieds-Feier und die Zeit und Arbeit würdigendem Geschenk. Hätte ich all das eigene Abschiedfeiern nicht vollzogen, würde ich heute noch in der Endlos-Schlaufe von Sehnen, Hoffen, morastigem Stillstand einer guten alten Zeit, durchzogen von Wutwellen und einem abwehrenden Nichtwahrhabenwollen, feststecken. Ein gedanklicher und emotionaler circulus vitiosus. Wie ein getriggertes Trauma durch ein traumatisierendes Ereignis, das und der zumeist auch, wie bereits erwähnt, mit einer tiefsitzenden, oft regressiven Verlustangst ("Trennungsangsstörung"), zusammenhängen kann. Man bleibt dann wie in einer Art Zwischenwelt hängen, einem magischen Traumland gleich, in dem man sich unbewusst wünscht, dass alles wieder wie vorher oder einfach weg, nie geschehen, ist. Zahlreiche Abwehrmechanismen greifen hier wie z.B. das Verdrängen, das Verleugnen und auch die Affektisolierung. Als würde die eigene Welt - auch: das Herz - wie ein- oder schockgefroren. Wie in Andersens Märchen "Die Schneekönigin". Auch das Bild einer Vinyl-Platte auf einem Plattenspieler, die einen Hänger hat und immer die gleiche Stelle im Lied spielt, kommt mir in den Sinn. Wie erstarrt ist das Herz ("Freeze-Zustand") und doch auch wütend. Das wirkt konträr und sich widersprechend. Aber die Wut verhindert jedes Auftauen des Herzens und bewirkt keine erlösende Katharsis und damit das Auftauen und Fließenlassen der Gefühle. Als würde die Wut das Herz schützen wollen wie ein Bodyguard eine VIP. So fesselt uns der Weltgeist und hält uns, in unserem tiefen Verließ, gefangen. Ich habe damals auch gedacht, dass sich alles noch zum Guten wenden wird, bis ich meine Realität des Sich-trennen-müssens anerkennen konnte. Dann konnte ich endlich emotional lebendig trauern. Mit kathartisch wütenden, tieftraurigen, schamdurchzogenen, angstvollen, leeren und auch freudigen Wellen. Ich war und bin froh, dass ich gut für mich selbst sorgen kann und mir auch mein Umfeld liebe- und kraftvoll zur Seite steht.


Einen Abschied zuzulassen und in den Trauerprozess einzutreten, bedeutet, dass ich meine vielfältigen Gefühle zulasse und mir immer wieder Raum und Zeit für mich selber nehme. Das kommt in Wellen. Das engl. Lied der amerikanischen Sklawen des 19. Jahrhunderts "Sometimes I feel like a motherless child"/ "Manchmal fühle ich mich wie ein mutterloses Kind" (Odetta) bringt diese Verlustangst, Gefühle von Verlassenheit und Ohnmacht über erfahrenen Verlust, auf den Punkt. Gut ist, wenn die Tränen dann wieder fließen können. Dann schmilzt das Eis und es wird wieder weicher. Auch wenn alles seine Zeit braucht. Manchmal brauche ich Unterstützung, weil mich die Gefühle wie eine Flut zu übermannen drohen. Aber ich darf Hilfe annehmen. Ich gebe mir liebe- und verantwortungsvoll, was ich und damit Mensch, gerade in Zeiten des Abschiednehmens und Trauerns, brauche.


"Nur wer bereit zu Aufbruch ist und Reise, Mag lähmender Gewöhnung sich entraffen."


Ich beschäftige mich auch, seit der Zeit der Verarbeitung meiner Trauer durch das bewusste Abschiednehmen, verstärkt mit den Themen Würde, Würdigung und Wertschätzung. Und mit meiner Selbstliebe durch Selbstfürsorge. Für mich und Andere. Ich bin mittlerweile sehr dankbar über diese Herausforderungen, Lebensaufgaben und deren Meisterung. Zudem möchte ich auch all denen Menschen danken, die mich durch diese besondere Zeit begleitet haben und weiterhin begleiten. Ich wünsche meinem "alten" Team das Beste und vor allem einen frischen Neuanfang, vielgestaltig ausgelebte Kreativität und vertrauensvolle Verbundenheit. "Macht es gut, wir zusammen waren wundervoll, ein echtes Dreamteam. Feiert das Leben und die Liebe!"

Rufe ich noch einmal in Gedanken und lasse los. Ein paar Tränen kommen.


Wie ein Schiff, das den bekannten Hafen in die unbekannte Weite verläßt. Meine wertvollen Erinnerungen bleiben mir. Ich nehme sie mit auf die Reise.


Auf zu neuen Ufern!


Wenn man bewusst durch Zeiten des Abschiednehmens und Trauerns geht, ist man nicht mehr der gleiche Mensch wie zu Beginn. Das Leben hat einen gewandelt. Man geht als ein Mensch hervor, der emotionale Zustände zulassen, verarbeiten und damit durch Schicksal reifen und immer wieder weich werden kann.

Ich habe einen freundlicheren Umgang mit Gefühlen erlernt mittels der Achtsamkeitspraxis und damit dem Gewahrsein des einzigartigen Augenblicks des Jetzt. Auch habe ich mehr archetypische Anteile und Teilpersönlichkeiten von mir kennen- und schätzengelernt. Ich als Mensch weiß um mich, kann mir helfen, mich beruhigen, gegebenenfalls Hilfe holen. Und ich würde nach all meinen Erfahrungen - beruflich und persönlich - sagen, dass genau dieses Durchleben vielfältiger emotionaler Zustände, durch Abschiednehmen, Trauern und Neubeginnen durch Schicksalsschläge, das eigentliche Leben und damit die tiefe Poesie des Lebens selbst ist.


Es macht das Leben reich. Man geht gestärkt aus solchen bewusst durchlebten Zeiten als ein gereifter, manchmal geläuterter und vor allem lebendiger Mensch hervor. Das Leben in seinen Spielformen und die Menschen darin annehmen, ihre Motive verstehen (versuchen) und aufrichtig lieben lernen ist nun leichter möglich.


Bewusstes und bisweilen emotional kathartisches Abschiednehmen ist resümierend ein Liebesdienst für alle Beteiligten und bringt uns in diesen einzigartigen, sinnlich üppigen und damit barocken Augenblick des Lebens zurück.


"Es muß das Herz bei jedem Lebensrufe Bereit zum Abschied sein und Neubeginne {...}."

Denn jedem Anfang wohnt ein Zauber inne.


Ich atme ein und aus und genieße die wärmende Sonne auf meiner Haut.



Literatur-Empfehlung


+ Bonnano, George A. Die andere Seite der Trauer - Verlustschmerz und Trauma aus eigener Kraft überwinden. Edition Sirius, 2012.

+ Hüther, Gerald. Lieblosigkeit macht krank. Was unsere Selbstheilungskräfte stärkt und wie wir endlich gesünder und glücklicher werden. Herder, 2021.

+ Huppertz, Michael. Achtsamkeitsübungen. Experimente mit einem anderen Lebensgefühl. 99 Anleitungen für die Praxis. Junfermann, 2015.

+ Hesse, Hermann. Stufen - Gedichte 1895 - 1941. insel Taschenbuch, 2017.

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